Gemeinschaft

Ein Jahr nach dem Tsunami

10. Januar 2006

Seit Monaten habe ich schon auf diesen Tag gewartet. Es freute mich, an diesen Ort wieder zurückzukehren, an den ich schon im letzten Jahr die Spenden der IGMG bringen konnte. Direkt nach dem Tsunami in Südostasien am 26.12.2004 hatte die IGMG ein Hilfsteam zusammengestellt und Dr. Mustafa Yoldas, Mehmet Senel und mich nach Aceh entsandt, das im Anschluss an das starke Seebeben die höchste Zahl an Opfern zu verzeichnen hatte. Nach den jüngsten offiziellen Statistiken forderte diese gewaltige Katastrophe ingesamt 230.000 Menschenleben. Die Provinz Aceh an der Nordspitze von Sumatra beklagte allein ca. 180.000 Opfer. Davon gelten 35.000 Menschen weiterhin als vermisst. Wahrscheinlich liegen deren tote Körper irgendwo im Indischen Ozean.

Viele Fragen hatten sich vor meiner Ankunft am Flughafen Sultan Iskandar Muda in Banda Aceh in meinem Kopf angesammelt. Wie sieht die Stadt nach nunmehr einem Jahr aus? Was ist aus den vielen Waisenkindern geworden? Wie laufen unsere Projekte? …..

Nach ca. 5 km bat ich den Fahrer an dem Massengrab kurz vor der Einfahrt zu Banda Aceh anzuhalten. Noch glasklar habe ich die Bilder vor meinen Augen, wie Bulldozer die verstümmelten und verwesten Leichen wie Abfall in die riesigen Massengräber hineinschoben. Heute ist das Gebiet mit einem hüfthohen weißen Holzzaun umgeben, flankiert mit den rot-weißen Fahnen Indonesiens. Zwei Bambusgebäude bieten den Besuchern des Massengrabs Schutz vor Regen und Sonne. Vor einem Jahr, als die Bergungsarbeiten noch liefen, waren dort 35.000 Leichen begraben. Heute konnte ich auf der provisorischen Gedenktafel lesen, dass mehr als 46.718 Opfer aus der Provinzhauptstadt dort gemeinsam beigesetzt wurden. Mein Fahrer, Taufiq, hatte seine Frau, Tochter und Schwiegereltern an dem schrecklichen Tag verloren. Er hat ihre Leichen nie gefunden. Vielleicht liegen sie hier. Er wird nie eine Antwort darauf finden.

Der 24-jährige Taufiq ist ein fröhlicher Kerl, jedoch verzieht sich sein Gesicht und seine Augen starren ins Leere, wann immer er an seine Familie denkt. Er ist Sinnbild eines ganzen Volkes. Ein Jahr nach dem Tsunami geht das Leben mehr oder weniger gut weiter. Jedoch sind die Wunden noch sehr frisch und man traut sich kaum nach den Verwandten zu fragen, um die Menschen nicht unnötig zu betrüben. Die überlebenden kämpfen noch immer mit dem ökonomischen und sozialen Trauma, das der Tsunami verursacht hat. Dabei ist die Liste der Verluste lang von fehlenden Häusern, Lebensunterhalt und Jobs, über den Mangel an Bildungsmöglichkeiten für die Kinder bis schließlich hin zum Verlust von ganzen Familien.

Das Stadtzentrum ist mittlerweile komplett vom Schlamm sowie Holz-und Metallgewirr befreit. Die meisten Geschäfte sind wieder eröffnet und die Straßen sind mit den hierzulande typischen Motorrädern und anderen Gefährten gefüllt. Man kann es kaum glauben, dass hier vor einem Jahr noch die ganze Stadt verwüstet war. Fährt man jedoch in Richtung Küste, hat sich am Bild nicht viel geändert. Eine riesige Mondlandschaft macht sich breit mit einigen Moscheen, die die Riesenwellen überstanden hatten, sowie von einigen Rückkehrern notdürftig errichteten Hütten. Zehntausende von überlebenden hausen weiterhin in den Zeltstädte in und außerhalb der Stadt in sicherer Entfernung zum Meer. An vielen Stellen der Stadt sieht man neue Bauvorhaben insbesondere von internationalen Hilfsorganisationen. Viele Zeltstädte wurden zwar mittlerweile in provisorische Dörfer mit Holz- oder Wellblechhütten umgebaut, jedoch werden noch mindestens 80.000 neue Wohnungen benötigt. Noch immer sind zehntausende von Menschen auf tägliche Lebensmittellieferungen angewiesen. Es werden noch Jahre vergehen bis die Menschen hier sich selbständig versorgen werden können.

Mein zweiter Besuch galt dem Bauvorhaben der IGMG an den Stadttoren Banda Acehs in dem Dorf Siem. Im vergangenen Jahr hatten wir mit unseren Partnerorganisationen nach einem geeigneten Bauland Ausschau gehalten und uns schliesslich auf die Errichtung eines Waisenheims mit integriertem Bildungszentrum geeinigt. Mit Freude konnte ich heute feststellen, dass andere Hilfsorganisationen in der Nähe unseres Waisenheims ähnliche Bauvorhaben gestartet haben, darunter auch die Grossstadtverwaltung von Istanbul. Unser ursprüngliches Ziel war es die Einrichtung zu diesem Opferfest (Eid-ul-Adha) feierlich zu eröffnen, jedoch zog sich der Baubeginn aufgrund von unvorhersehbaren bürokratischen Problemen in die Länge. Nachdem nun alle Genehmigungen vorlagen, ist der Bau in vollem Gange und die Eröffnung der Anlage ist für Ende Mai geplant. 50 Tsunamiwaisen sollen in zwei Schlafsälen untergebracht werden. In weiteren Klassenräumen sowie den zwei geräumig angelegten Trainingszentren wird beabsichtigt, die Waisenkinder auf den neuesten Stand der Informationstechnik zu bringen. Da die Waisenkinder tagsüber die nahegelegene staatliche Schule besuchen werden, kann das Bildungszentrum auch Außenstehenden für Fortbildungskurse zur Verfügung gestellt werden. Somit wird unser Bauvorhaben eine Doppelfunktion erfüllen. Inschallah wird der Bau im geplanten Zeitraum fertiggestellt.

Bei der Ausbildung der Waisenkinder werden wir Wert darauf legen, dass die Kinder neben viel Spass auch eine lehrreiche Zeit im Waisenheim haben. Der Umgang mit Computern soll ihnen ermöglicht werden, jedoch sollen sie auch idealerweise eine Ausbildung erhalten. Desweiteren werden intensive Sprachkurse auf dem Lehrplan stehen. Dieses Wissen soll den Kindern in ihrer vertrauten acehnesichen Kultur vermittelt werden. Das Personal soll daher insbesondere aus dieser Region stammen. Ziel ist es also, diesen Kindern, denen die Basis für ein erfolgreiches Leben auf tragische Weise geraubt wurde, eine neue Familie und damit eine neue Chance zu geben und sie mit allen notwendigem Wissen zu wappnen, um später ein Universitätsstudium zu absolvieren und in der Gesellschaft einen positiven Beitrag zu leisten. Dabei träume ich davon, dass eines Tages ehemalige Kinder aus unserem Waisenheim für ein Masterstudium nach Deutschland oder ein anderes europäisches Land kommen werden. Daher kann ich die für Ende Mai geplante farbenfrohe Eröffnungsfeier mit den strahlenden Augen der Kinder kaum abwarten.

Desweiteren hatte ich heute auch Gelegenheit die neue Klinik des Indonesichen Roten Halbmonds (BSMI) zu besichtigen. Im vergangen Jahr hatten wir mit dieser Organisation eine enge Kooperation gestartet, wobei Dr. Yoldas in der Feldklinik für eine Woche tätig war und unter der Assistenz von Mehmet Senel u.a. bereits stark infizierte Wunden von Opfern behandelte. Im Rahmen unserer Soforthilfe hatten wir auch dem BSMI einen Krankenwagen finanziert. Selbstverständlich interessierte es mich, wie die neuen Räumlichkeiten der Klinik aussehen und in welchem Zustand sich der Krankenwagen befindet. Die Leiterin der Klinik Dr. Rosaria Indah war überrascht mich wiederzusehen, zumal ich unangekündigt gekommen war.

Sie gab mir einen Überblick auf das vergangene Jahr. So hat die Klinik kurz nach meiner Abreise im Februar 2005 ihren Betrieb aufgenommen. Kurz darauf wurde das Feldhospital in Lambaro in dem wir gearbeitet hatten, geschlossen und in das Krankenhaus verlegt. 50-60 Patienten werden hier täglich durchschnittlich behandelt. Sieben Allgemeinärzte, sechs Spezialisten, 15 Krankenschwestern sowie 5 Hebammen sind hier im Schichtwechsel tätig und haben mehr als 20.000 Patienten in der Klinik als auch in den Flüchtlingscamps behandelt. Hierfür stehen der Klinik zwei Krankenwagen zur Verfügung, die auch als mobile Kliniken genutzt werden. Den ersten Krankwagen hatten wir zum vergangen Opferfest an die BSMI übergeben.

Seitdem war dieser rund um die Uhr im Einsatz. Der Tachometer zeigte heute knapp 30.000 km an. Die holprigen Straßen Acehs kann man ihm zwar ansehen, jedoch hatte ich den Krankenwage in einem schlimmeren Zustand erwartet. Im März wurde unser Krankenwagen auch auf der Insel Nias vor Sumatra für mehrere Wochen eingesetzt. Nias war von einem starken Erdbeben heimgesucht worden und forderte viele Opfer. Wie mir Frau Dr. Indah berichtete, fragten viele Inselbewohner nach dem Abzug unseres Krankenwagens nach der „mobilen Klinik“. Daraufhin konnte ein weiterer Sponsor für einen zweiten Krankenwagen gefunden werden, der unseren Krankenwagen auf Nias ersetzte. Unsere Spende hatte also auch einen Vorbildfunktion übernommen. Es war mir eine Freude Frau Dr. Indah wiederzusehen, hatten wir doch im vergangen Jahr gemeinsam entlegene Camps aufgesucht. Sie bedankte sich nochmals herzlich für die Spenden sowie die gute Zusammenarbeit und verwies auf das neue Krankenhausprojekt von BSMI, für das sie noch mehrere Millionen Dollar benötigen. Zum Ende machte ich Dr. Indah noch eine Überraschung, indem ich von der für den 15. Januar in Jakarta offiziell geplanten Üübergabe des zweiten Krankenwagens unserer Organisation an den BSMI erzählte. Hierfür wird derzeit der Krankenwagen hergerichtet. Es ist mir eine besondere Ehre diese Aufgabe im Namen der Jugendorganisation von Milli Gorus auszuführen, die das Geld für den Krankenwagen auf mehreren Veranstaltungen europaweit gesammelt hat. Eine beachtliche Leistung der Jugendlichen des IGMG, wie ich finde.

Am Sonntag wird inschallah Ali Börek aus Deutschland in Aceh eintreffen. Gemeinsam werden wir die diesjährige Opfertieraktion in Indonesien, insbesondere in Aceh durchführen. Hierfür haben wir bereits seit Wochen Vorbereitungen getroffen. Ali Börek wird die Verteilung der Opfertiere in Banda Aceh und im Umland übernehmen. Hierzu wurden bereits die Zahl der Tiere für jedes Flüchtlingscamp festgelegt. Ich werde in das ca. acht Autostunden entfernte Meulaboh fahren, um dort weitere Opfertiere zu verteilen. Meulaboh war im vergangen Jahr fast gänzlich zerstört worden und ist noch immer nur sehr schwierig zu erreichen. Selbstverständlich werden Ali und ich versuchen den Kindern durch kleinere Geschenke dieses Fest zu versüßen. Auch habe ich aus meinem letzten Urlaub türkische Hijabe mitgebracht. Im vergangen Jahr hatten mich viele Frauen bei der Verteilung der Hilfsgüter in den Camps gefragt, ob wir denn auch Kopftücher für sie dabei hätten. Damals musste ich sie enttäuschen, aber heute möchte ich einen kleinen Teil wieder gut machen. Unser Plan für die nächsten Tage ist sehr eng bemessen. Noch am Morgen des zweiten Tages des Opferfests muss ich zurück nach Banda Aceh reisen, wo wir mit Ali Börek gemeinsam nach Jakarta zurückfliegen werden, um auch dort weitere Opfertiere zu verteilen. Anschliessend geht es am dritten Festtag nach Malaysia, wo wir in Kuala Lumpur inschallah am letzten Tag vom Eid-ul-Adha unsere diesjährige IGMG Opfertier-Kampagne beenden und weitere Opfertiere an notdürftige Menschen verteilen werden.

An dieser Stelle möchte ich einer Bitte von zahlreichen Menschen aus Aceh nachkommen und ihren Dank für die tiefe Anteilnahme und die großzügige Hilfe von den Muslimen in Deutschland und Europa aussprechen. Ich möchte mich diesem Dank anschliessen. Ohne Eure Spenden wären all diese Aktionen nicht möglich gewesen. Inschallah wird ALLAH (swt) alle für ihre Unterstützung belohnen. Dafür bitte ich die Muslime in Europa weiterhin unsere Projekte zu unterstützen. Mit dem Bau des Waisenheims wird es nicht getan sein. Auch müssen die laufenden Kosten des Waisenheims gedeckt werden. In diesem Rahmen werden wir inschallah Interessierten die Möglichkeit geben, direkt Waisenkinder finanziell zu unterstützen und mit ihnen in Kontakt zu treten. Die Vorbereitungen für diese Patenschaften werden demnächst beginnen.

Aus Banda Aceh sende ich islamische Grüsse,

Ufuk Secgin

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