Gemeinschaft

Celil Yalınkılıç, Vorsitzender der IGMG Irschadabteilung: „Wir müssen unsere islamische Identität bewahren!“

22. Dezember 2012

Der Begriff „Irschad“ beschreibt im Grunde das Verhältnis von Muslimen zu ihren Mitmenschen. Wie haben wir uns auf dieser Grundlage die Irschad-Arbeit der IGMG vorzustellen, die ihre Dienste in Ländern anbietet, in denen Muslime als Minderheit leben?

Da unsere Organisation eine Religionsgemeinschaft ist, sind notwendigerweise alle Menschen in der Gesellschaft unsere Gesprächspartner. Es gilt eine Beziehung zu unseren Mitmenschen aufzubauen, bei der wir den Anforderungen unserer Religion gerecht werden. Im Innern, zumindest wenn es um unsere eigene Gemeinschaft geht, bemühen wir uns, die Werte unseres Glaubens zu bewahren und an die junge Generation weiterzugeben. Dazu müssen wir uns auch die Frage stellen, was wir unter Irschad verstehen. Zweifellos ist hier unser Prophet ein gutes Beispiel für uns. Wenn wir sein Leben betrachten, dann sehen wir, dass sein gesamtes Wirken in Mekka und Medina im Grunde Irschad war. Denn im Vergleich mit unserer jetzigen Situation sehen wir, dass der Prophet, insbesondere in Medina, die Erfahrung des Zusammenlebens mit Angehörigen verschiedener Religionen und in gewisser Weise auch mit einer Mehrheitsgesellschaft gemacht hat. Das Wichtige dabei ist: Wenn ein Mensch seine eigenen religiösen Werte anderen deutlich machen will, dann muss er dies nicht nur mit Worten, sondern mit seinen Taten tun. Das bedeutet, dass sein Verhalten und seine Lebensweise mit seinen eigenen Glaubensüberzeugungen übereinstimmen müssen. Infolgedessen gehört für uns auch die Vermittlung der Fähigkeiten zum Irschad, gemäß den eigenen Glaubensüberzeugungen leben zu können. Es ist notwendig, ein beispielhaftes muslimisches Individuum zu sein. Nur so können wir unser Selbstverständnis, ausgerichtet an dem Beispiel unseres Propheten, deutlich machen.

Das Grundprinzip des Irschad ist es, gemäß dem Koran, mit Weisheit zu sprechen. In dieser Gesellschaft kommt es vor, dass eine Religion oder die Angehörigen einer Religion, in einer Weise kritisiert werden, bei der alle Grenzen des Anstands überschritten und die Menschen gekränkt und verletzt werden. Erschwert eine solche Situation das „Sprechen mit Weisheit“?

Ein großer Gelehrter definiert den Begriff der Weisheit (Hikma) als „das den Umständen angemessene Handeln einer Person“. Ein anderer beschreibt es als „das Wiedereinsetzen eines Steines in die Kerbe, aus der er herausgefallen ist“. In diesem Sinne versuchen wir auch, in der bestehenden Situation mit Weisheit mit den Menschen über die Religion Allahs zu sprechen. Das heißt, wir versuchen die Werte unseres Glaubens zu vermitteln, ohne andere Menschen zu verletzen, ohne sie zu kränken, ohne sie in ihrer Persönlichkeit anzugreifen und ohne ihre religiösen Werte zu missachten. Das Sprechen mit Weisheit ist also ein Sprechen in angemessener Art und Weise, in einer Form, die als Ratschlag oder Empfehlung verstanden werden kann. Der entsprechende Koranvers verlangt, dass die Einladung zur Religion Allahs mit den schönsten Worten erfolgt, auch wenn dazu viel Anstrengung notwendig ist. Unsere Grundwerte und unser Glauben erlaubt es nicht, unser Gegenüber zu beleidigen. Wir vermitteln den Menschen das, was wir für wahr und richtig halten. Ob sie ebenfalls daran glauben oder nicht, liegt gänzlich bei ihnen. Das heißt also, dass Weisheit auch bedeutet, die richtigen Worte zu finden, diese richtig ausdrücken zu können und schließlich auch die Konsequenzen zu tragen, die sie hervorrufen.

Die Muslime in Europa sind eine Minderheit. Aus diesem Grund ist in den Gelehrtenkreisen der islamischen Welt der Ausdruck „Minderheitenrecht“ entstanden. Es werden Ansichten vorgetragen, wie die, dass man das Islamische Recht anders deuten solle. Ist ein islamisches Minderheitenrecht in diesem Sinne erforderlich? Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Ich glaube, dass vor der Definition eines Minderheitenrechts zuvor eine Definition des Islamischen Rechts (Fikh) notwendig ist. In den klassischen Werken wird das Islamische Recht als die für eine Person ungünstigen und günstigen Umstände beschrieben, wodurch die Person mit diesem Wissen ihr eigenes Handeln bestimmen kann. Wenn wir aber eine Deutung des Rechts vornehmen, kann diese nicht mit der Absicht erfolgen, Änderungen an den Konstanten des Islams vorzunehmen. Wir können den Fikh nicht in der Weise deuten, das er von den wesentlichen Fundamenten der Religion, also den Grundsätzen des Glaubens oder der Gottesdienste, die durch den Koran festgelegt sind, abweicht. Allerdings kann es durchaus notwendig sein, von der vorhandenen Flexibilität des Islamischen Rechts Gebrauch zu machen, wenn es zum Beispiel darum geht, auf variable Umstände oder vollkommen neue Situationen zu reagieren. Wenn neue Situationen neue Beurteilungen erfordern, so kann dadurch auch eine Überarbeitung der entsprechenden Themengebiete des Islamischen Rechts notwendig werden. Nur scheint der neu entstandene Terminus „Minderheitenrecht“, dem Problem nicht gerecht zu werden.

An den Gelehrtenrat der IGMG werden auch sehr viele Alltagsfragen gestellt. Unter ihnen nehmen besonders Fragen bezüglich Lebensmitteln und Zusatzstoffen eine wichtige Stellung ein. Hierzu bestehen zwischen den Urteilen, die andere Gelehrte des Islamischen Rechts in anderen Regionen der Islamischen Welt fällen, und Ihren Urteilen zuweilen Unterschiede.

Zunächst ist festzuhalten, dass es eine Degeneration von religiösen Begriffen gibt. So sind die Begriffe Halal und Haram (Erlaubtes und Verbotenes) heute so weit degeneriert, dass vielen Muslimen ihre Bedeutung unklar geworden ist. Infolgedessen fällt ihnen sowohl die Aneignung als auch die Wahrung einer islamischen Identität zunehmend schwer. Im Zusammenhang mit Lebensmitteln und Zusatzstoffen beispielsweise hat unser Gelehrtenrat sehr viele Diskussionen geführt und Lebensmittelexperten angehört. Denn das Islamische Recht misst der Meinung von Fachleuten einen hohen Wert bei. Zum Beispiel haben wir noch vor Kurzem das Gelatine-Problem besprochen. Wir haben den Sachverhalt bezüglich der Gelatine, die von Tieren stammt, welche nicht auf islamische Weise geschlachtet wurden und daher eigentlich haram sind, umfangreich diskutiert. So sagen manche, dass der Verzehr von Zusatzstoffen, die eine Umwandlung durchgemacht und ihre ursprünglichen Eigenschaften gänzlich verloren haben, zulässig ist. Aber hier darf ein zweiter Aspekt des Problems nicht vergessen werden.

Welcher Aspekt ist das?

Wir haben im Gelehrtenrat zum Beispiel die Frage diskutiert, ob wir etwas, das halal erscheint, auch sicher als halal bezeichnen können. Um solche Fragen beantworten zu können, ist es unbedingt notwendig, dass die Begriffe halal und haram in ihrer richtigen Bedeutung gebraucht werden und ihre Gültigkeit bewahren, unabhängig davon, wo wir auf der Welt leben oder uns gerade befinden. Unser Prophet sagte: „Was haram ist, ist bestimmt, und was halal ist, ist bestimmt. Haltet euch fern von dem Unbestimmten, das zwischen diesen beiden liegt.“ Beachten Sie, er sagt nicht, man solle sich fernhalten, weil es haram ist, sondern, weil es unbestimmt ist. Daher müssen wir als Muslime die Geltung dieser Regel gemäß der Sunna achten. Allmählich alles für halal zu erklären, kann später zu einer großen Identitätskrise führen.

Es gibt auch ein Problem in Bezug auf die Gebetszeiten. Es gibt Regionen auf der Welt, in denen die Gebetszeiten nicht eindeutig festgelegt werden können. Manche Gelehrte, die eben nicht in diesen Regionen leben, Fatwas heraus, nach denen das rituelle Gebet nicht verrichtet werden kann, wenn die jeweilige Gebetszeit noch nicht eingetreten ist. Dies ist für den äußersten Norden und Süden der Erdkugel relevant, denn in diesen Regionen treten nicht alle Gebetszeiten ein. Oder es gibt Regionen, für die sich Gebetszeiten ergeben, deren Einhaltung die Leistungsfähigkeit der Menschen überfordert. Nun lebt aber ein nicht unwesentlicher Teil der Muslime an Orten, an denen sich die vorgegebenen Gebetszeiten nicht einstellen. In dieser Angelegenheit vertreten Sie eine andere Auffassung.

Wir wissen, dass das tägliche fünfmalige Gebet zu festgelegten Zeiten Pflicht (Farz) ist. In den betreffenden Koranversen werden alle Gebetszeiten erwähnt. Maßgeblich dabei ist, dass das Gebet zur vorgesehenen Zeit verrichtet wird. Allerdings gibt es in den nördlichen und südlichen Regionen der Erde eben Gebiete, in denen die Gebetszeiten, die sich nach dem Sonnenverlauf richten, aufgrund der Position der Sonne nicht eintreten. Was uns angeht, sehen wir hier keine Berechtigung für ein Entfallen der Gebete. Die Gebete müssen unbedingt fünf Mal am Tag verrichtet werden, weil unserer Auffassung nach die Anzahl der täglichen Gebete maßgeblich ist. Daher sprechen wir uns für eine Art und Weise der Bestimmung der Gebetszeiten aus, die sich der genannten Schwierigkeiten bewusst ist.

Wenn von der Irschadabteilung die Rede ist, meinen viele noch, es handele sich dabei um eine Einrichtung, in der nur den Imamen Ihre Aufgaben zugewiesen und deren organisatorische Angelegenheiten geregelt werden. Wie würden Sie als ihr Leiter, die Irschadabteilung beschreiben?

Ich war selbst Imam. Die mangelhafte Wahrnehmung in Bezug auf die Arbeit der Irschadabteilung ist mir bekannt. Da wir eine Religionsgemeinschaft sind, gehört die Zuteilung, Bestimmung und organisatorische Betreuung der Imame natürlich in unseren Arbeitsbereich. Diese Aufgaben sind aber dabei nur der technische Aspekt der Arbeit. Denn ihr Aufgabenfeld erstreckt sich in Wirklichkeit noch über viele andere Gebiete. Dazu gehört zum Beispiel die Entwicklung und Etablierung eines authentischen Islamverständnisses innerhalb unserer Gemeinschaft oder die Frage nach der Art und Weise, wie der Islam auf individueller und auf Organisationsebene im europäischen Kontext vertreten werden soll. Darüber hinaus gehören dazu die Beseitigung der bei den Muslimen bestehenden Mängel im Bereich ihres religiösen Grundwissens, Anstrengungen für die Wahrung der islamischen Identität nachfolgender Generationen und natürlich die Ausbildung neuer Imame. Was die anfangs erwähnte mangelhafte Wahrnehmung der Aufgaben der Irschadabteilung betrifft, so liegt dies daran, dass bisher die Kommunikation mit den Menschen über diese Themen nicht ausreichend entwickelt war. Aber diese bauen wir kontinuierlich aus.

Wo wir beim Thema Imame sind: In Europa ist man mittlerweile so weit, dass akademische Einrichtungen eröffnet werden, in denen Personen ausgebildet werden, die später islamischen Religionsunterricht erteilen und Aufgaben als Imame übernehmen sollen. Im Rahmen Ihrer Projekte für die Ausbildung von Imamen führen Sie auch Fortbildungsprogramme durch. Außerdem gibt es Diskussionen darüber, ob die Imame an beliebigen Orten ausgebildet werden oder sie ihre Ausbildung an bestimmten Ausbildungsstätten in einer bestimmten Sprache erhalten sollen. Wie ist Ihr Standpunkt dazu?

Wir sind dagegen, dass die Ausbildung für Imame auf bestimmte Länder beschränkt wird. Wir finden es nicht wichtig, wo ein Imam ausgebildet wird, sondern wie er ausgebildet wird. Das ist vorrangig. Das heißt, die wichtigste Frage hier ist, ob unsere Imame in der Weise ausgebildet werden, dass sie den Bedürfnissen unserer Gemeinden gerecht werden können. Natürlich müssen unsere Imame die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Werte, die an ihrem jeweiligen Dienstort bestehen, sehr gut kennen und berücksichtigen. Da es aber in erster Linie um die angemessene Betreuung einer Moscheegemeinde und dessen Umfeldes geht, stellt die Tatsache, wo und in welcher Sprache er seine Ausbildung zum Imam erhalten hat, keine Schwierigkeit dar. Berücksichtigt werden muss lediglich, dass die arabische Sprache eine Besonderheit darstellt, da es die Hauptquelle für den Zugang zum islamischen Wissen darstellt und der Koran auf Arabisch geschrieben ist. Aus diesem Grund legen wir großen Wert darauf, dass der Imam des Arabischen mächtig ist. Sofern die Imame so ausgebildet werden, dass sie dabei das notwendige Wissen erwerben, macht es also keinen Unterschied, ob sie in Ägypten, der Türkei, in Deutschland oder in Frankreich ausgebildet werden. Zur Grundausbildung gehören unabdingbar Fächer wie Überlieferung (Hadith), Islamisches Recht (Fikh) oder Koranexegese (Tafsîr).

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