Gemeinschaft
„Begriffe des Chaos – Chaos der Begriffe“- Symposium in Bonn
06. November 2007In Bonn kamen vergangenen Sonntag mehr als 200 Gäste zusammen, um über die „Begriffe des Chaos – Chaos der Begriffe“ zu diskutieren. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) hatte zahlreiche Referenten und Diskutanten zu einem internationalen Symposium im Bonner Gustav-Stresemann-Institut eingeladen.
„Der Islam gehört zur Wirklichkeit Deutschlands und Europas“, sagte Yavuz Çelik Karahan, Vorsitzender der IGMG, in seiner Eröffnungsrede. „Die weltweite Aufmerksamkeit richtet sich auf Muslime und wir werden immer wieder Zeuge von Debatten über den Islam. Es ist jedoch auffallend, dass selbst Muslime viele Begriffe in diesen Debatten nutzen, ohne sie je zu hinterfragen. Die Begriffe die wir nutzen, sind jedoch ein Spiegelbild unserer Gedankenwelt. Und hier stellt sich die Frage, inwieweit unsere Begriffe unser Verständnis formulieren können. Indem wir unsere Begriffe diskutieren, diskutieren wir unsere Selbst- und Weltwahrnehmung“, stellte Karahan fest. Dies erfordere letztendlich, dass wir uns die Fragen stellen, wer wir sind und wo wir stehen. Und dies bedeute auch eine gewisse Abrechnung mit den Ideen und Praktiken, die wir bisher entwickelt haben. Weiter sagte Karahan: „Dass wir sogar die Begriffe die wir nutzen, zur Diskussion stellen, ist kein Zeichen der Schwäche und Unsicherheit. Im Gegenteil, es ist ein Zeichen für Selbstsicherheit und -vertrauen. Es liegt in unserer Verantwortung, keine übereilten und fertigen Antworten zu liefern, sondern die Menschen durch das Stellen der richtigen Fragen zum Denken zu animieren.“
Die Eröffnungsrede des Symposiums hielt der seit 1993 amtierende Großmufti von Bosnien-Herzegowina Mustafa Ceric. „Ich möchte diese Möglichkeit zum Anlass nehmen, um mich bei der IGMG zu bedanken, für alles was sie für mein Land, für Bosnien-Herzigowina getan haben. Es ist interessant, dass wir dieses Thema gerade in Bonn diskutieren. Und möglicherweise ist es ein gutes Zeichen, dass wir in Europa einige der Konzepte erstellen oder einen Teil des Durcheinanders aufklären können, die wir wohl unter unseren Gelehrten haben.“ In seinem weiteren Vortrag ging Ceric auf die Begriffe Akida, Scharia und Hilafa und deren Bedeutung für heute ein. Während im vorigen Jahrhundert Scheich Schaltut Islam nur als Akida und Scharia ansah, würden wir heute vom Islam als Akida, Scharia und Hilafa/Imamet ausgehen. „Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir mit Akida, Scharia und Hilafe drei Grundkonzepte haben, die wir immer wieder falsch verwenden und nicht verstehen, was sie genau bedeuten“, kritisierte Ceric.
Die Akida sei eine persönliche Glaubensüberzeugung. Mit der Akida hätten die meisten Muslime kein Problem, da der Islam im Grunde die einfachste Glaubensgrundlage hat, die es geben kann. Ceric verstehe es insoweit nicht, wenn manche Gelehrten die Akida verkomplizieren würden. Während die Akida eine persönliche Angelegenheit wäre, sei die Scharia eine kollektive. Die Scharia stehe immer in Verbindung mit der Moral und Moral sei nicht eine rein individuelle Angelegenheit. Bei der Moral gehe es immer auch um die Beziehung zum Anderen. Die Scharia regele also wie die Akida meine persönliche Haltung, meine persönliche Weltanschauung aber auch meine gemeinschaftliche Haltung zu Anderen.
„Ich will nicht ausarbeiten, die Scharia müsse wieder zurückkommen, aber was ist nun das Imamet?“, fragte Ceric weiter. „Das Imamet ist Geschichte. Dagegen sind Akida und Scharia transzendental. Die Idee von der Akida haben wir von Gott. Die Scharia ist in dem Sinne transzendental, dass wir sie im Koran, in der Thora oder in der Bibel haben. Es ist eine Art von Bund zwischen uns und Gott. Aber Imamet und Hilafet ist uns überlassen, es ist unsere Geschichte; die Geschichte unseres Verhaltens und unserer Leistung. Und wir scheitern meistens in diesem Bereich. Denn Imamet erfordert Organisation, Soziologie, erfordert Wissen darüber, wie eine Gesellschaft organisiert wird.“
Ceric stimme Hamid Habbashis Analyse zu, der Max Webers Theorie zum Charisma einsetzte und sagte, dass der Prophet Muhammed (as) Charisma hatte. Die Veralltäglichung des Charismas war in der Geschichte der Weg der Sunniten, die Fortführung des lebenden Charismas war der Weg der Schiiten und die Verteilung des Charismas war der charidschitische Weg. Die Sunniten sind bei der dauerhaften Veralltäglichung des Charismas gescheitert, denn sie haben sich stark säkularisiert. Die Fortführung des Charismas unter den Schiiten hat auch als Minderheit überlebt, denn das lebende Charisma ist immer anwesend. Und die Charidschiten tauchen heute wieder auf unterschiedliche Arten wieder auf. Weil die Sunniten damit scheiterten, das Institut des Imamets in der Vergangenheiten zu etablieren, kamen die Schiiten mit ihrer Fortführung des Charismas. Weil aber auch die Schiiten nicht die Oberhand gewinnen konnten, haben wir heute die charidschitische Logik der Verteilung des Charismas. „Und ihr in Europa seid ein Beispiel dafür, denn in Europa kann euch niemand zusammenbringen. Wir sind insoweit alle Charidschiten, weil wir die Veralltäglichung des Charismas, der Sunna nicht akzeptieren“, stellte Ceric fest. „Meine Lösung ist, dass Sunniten und Schiiten zusammenkommen müssen, damit Sunniten etwas von der Fortführung des Charismas, Schiiten von der Veralltäglichung des Charismas lernen, um die charidschitische Logik, in der wir heute sind, zu überwinden.“
Den Begriff der Scharia diskutierte Ceric anhand der Arbeit von Asifa Quraishi, die die Scharia im Kontext der amerikanischen Verfassung untersucht habe. Ihre Arbeit zeige, wie heuchlerisch die Muslime sind, wenn sie über die Implementierung der Scharia in ihrem Alltag sprechen und wie heuchlerisch der Westen in seiner Forderung, die Scharia aufzugeben, ist. Denn selbst in den muslimischen Ländern, die Behaupten, sie würden die Scharia umsetzen, werde diese nicht umgesetzt. Ceric wies darauf hin, dass der Fikh nicht die Scharia ist. Der Fikh ist nur der Versuch, die Scharia zu verstehen. Die Scharia ist transzendental, nie vollständig bestimmbar. In der Geschichte waren die Rechtsgelehrten unabhängig von der Politik. Sie waren Wissenschaftler und Gelehrte. Als sie Teil des politischen Systems wurden, verloren sie ihre Freiheit und Würde. Und das sei eines der Hauptprobleme der heutigen Zeit. Selbst wenn viele muslimische Staaten behaupten würden, dass ihre Rechtsprechung auf der Scharia beruhe, so sei dies falsch, denn die Basis sei eher die jeweilige Tagespolitik. Die Rechtsgelehrten würden abseits der Gesellschaft stehen.
In der ersten Sitzung des Symposiums ging es um das „Überschreiten begrifflicher Grenzen und die Probleme des Übersetzens“. Prof. Syed Farid Alatas von der Universität Singapur diskutiert diese Frage anhand des Problems der Begriffsbildung in den Religionswissenschaften. Sozialwissenschaftliche Konzepte würden kulturellen Begriffen der Alltagssprache entspringen. Sie würden als solche aber Probleme bereiten, wenn sie in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden, um über Phänomene außerhalb ihres Entstehungsgebiets zu diskutieren. Die Folge sei, dass sie die Phänomene, die sie untersuchen sollten, verzerren.
Seit dem 18. Jahrhundert werde das Konzept der Religion zum Beispiel auch gebraucht, um auch Glaubenssysteme außerhalb des Christentums zu untersuchen. Wenn das Konzept der Religion aber bei anderen Glaubenssystemen als dem Christentum, zum Beispiel beim Islam oder dem Hinduismus, wird zwangsläufig ein Vergleich zum Christentum aufgebaut. Dies führe zu einer Außerachtlassung der Realität und eine Christianisierung des anderen Glaubenssystems, in dem Sinne, dass es die Eigenheiten des Christentums sind, die diesen Glaubenssystemen zugeschrieben werden.