Freitagspredigt
Hutba: Religiosität in modernen Zeiten
27. September 2018Verehrte Muslime!
Der Islam führt uns auf den Weg wahrer Glückseligkeit – und zwar im Diesseits und im Jenseits. Wer glaubt, also Îmân besitzt, und danach lebt, wird glückselig werden. Die praktische Umsetzung des Glaubens ist eine Art Religiosität, also Takwâ.
Das menschliche Bedürfnis nach Religion und der Wunsch nach religiöser Praxis sind Teil der Fitra, also der natürlichen Veranlagung des Menschen. Dîn und Îmân sind nicht Fertigkeiten, die der Mensch mit der Zeit erlernt, sondern angeboren. Allah, der Erhabene, hat sie jedem Menschen mitgegeben.
Liebe Geschwister!
Religiös sein bedeutet ausgewogen zu sein, d. h. in Harmonie mit Allah, den Menschen und allen anderen Geschöpfen zu leben. Nur so kann der Îmân vollkommen werden. Wenn es keine Ausgewogenheit gibt oder nur teilweise, ist die Religiosität lückenhaft. Das bedeutet: Wenn unser Îmân uns nicht zu guten Taten führt, ist er nicht vollkommen. Und wenn wir umgekehrt viel Gutes tun, aber nicht aufrichtig glauben, dann fehlt etwas Grundlegendes. Deshalb ist die Aufrichtigkeit in unseren Worten und Taten äußerst wichtig. Religiös sein heißt also ausgewogen sein, das wiederum geht mit Aufrichtigkeit einher.
Verehrte Muslime!
Wie es uns gelingt, Takwâ zu erreichen, erfahren wir aus folgendem Koranvers: „Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Gesicht nach Westen oder Osten kehrt. Fromm ist vielmehr, wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und an die Engel und die Schrift und die Propheten; und wer sein Geld – auch wenn er selbst Bedarf hat – für seine Angehörigen und die Waisen, die Armen und den Reisenden, die Bettler und die Gefangenen ausgibt; und wer das Gebet verrichtet; und wer die Zakat zahlt; und die, welche ihre eingegangenen Verpflichtungen einhalten und in Unglück, Not und Gefahr standhaft sind: Sie sind es, die aufrichtig und gottesfürchtig sind.“[1]
In diesem Vers erfahren wir vier Grundlagen, auf denen die Religiosität beruht. Diese sind:
1) Îmân, also der Glaube an Allah, den Jüngsten Tag, die Engel, die göttlichen Schriften, die Propheten, die Vorherbestimmung und der Glaube daran, dass alles Gute und Schlechte von Allah kommt.
2) Amal, also gute Taten und Ibâdas für Allah zu verrichten.
3) Adl, also das gerechte, aufrichtige und gewissenhafte Handeln, fern von allem Unrecht.
4) Wohltätigkeit, also das Spenden in Form von Sadaka und Infâk, aber gleichzeitig auch das Wohl der Gesellschaft anzustreben und zu festigen.
Liebe Geschwister!
In unserer modernen Zeit ist es nicht immer einfach, ein religiöses Leben zu führen. Das gilt insbesondere für Europa. Die Glaubens- und Religionsfreiheit ermöglicht zwar, dass Menschen unterschiedlichen Glaubens zusammenleben können. Dennoch werden religiöse Menschen in der Gesellschaft oft mit Skepsis und sogar Angst betrachtet. Das gilt gerade auch dann, wenn die Religion sichtbar wird, zum Beispiel durch das Tragen eines Kopftuches oder Bartes. Auch praktizierende Muslime, die in der Schule oder am Arbeitsplatz beten möchten und ihren Glauben offen leben, erfahren oft Abneigung und Ablehnung.
Verehrte Muslime!
Als Muslime sollten wir uns wie unser Prophet verhalten. In den ersten Jahren des Islams wurde er in Tâif beschimpft, vertrieben und sogar verletzt. Trotz dieser Behandlung betete er für die Vergebung seines Volkes: „O Allah, vergib meinem Volk, denn sie wissen nicht, was sie tun.“[2]
Es ist nicht Zufall, dass wir hier in Europa leben, sondern letzten Endes Allahs Bestimmung und Prüfung. Unsere Aufgabe ist es deshalb, einerseits unsere Rechte zu verteidigen, und andererseits unseren Glauben zu leben und angemessen zu vertreten – friedfertig und aufrichtig.
In diesem Sinne möchte ich auch auf das Thema des Tages der offenen Moschee am 3. Oktober hinweisen. Denn das diesjährige Motto lautet: „Religiosität – individuell, natürlich, normal“.
Mögen Allah uns zu den aufrichtigen Muslimen zählen. Mögen wir zu jenen gehören, die sich in schönster Weise für ihren Glauben einsetzen.
[1] Sure Bakara, 2:177
[2] Buhârî, Anbiyâ, 54