Gemeinschaft
Oğuz Üçüncü: „Die Arbeit des NSU Untersuchungsausschusses wird brauchbare Ergebnisse hervorbringen.“
24. November 2012Herr Üçüncü, ein Jahr ist vergangen, das bekannt wurde, dass an der als „Döner-Morde“ bezeichneten Mord-Serie die rechtsextreme Organisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) beteiligt gewesen ist. Trotzdem konnten bei der Aufklärung dieser Mord-Serie keine nennenswerten Fortschritte erzielt werden. In der türkisch-muslimischen Bevölkerung bestehen deshalb weiterhin ernsthafte Sorgen. Wie bewerten Sie den seit einem Jahr laufenden Prozess?
Auf die Fragen im Zusammenhang mit der Mord-Serie konnten keine ausreichenden Antworten gegeben werden, stattdessen sind noch mehr Fragen hinzugekommen. Die Täter betreffend wurden bisher drei Namen genannt. Aber das Problem ist nicht so einfach, dass man sagen kann, zwei der Mörder haben sich gegenseitig erschossen, eine von ihnen wurde festgenommen und die Sache ist damit erledigt. Denn was wir sehen können, ist nur die Spitze des Eisbergs. Durch die laufenden Untersuchungen haben wir inzwischen erfahren, dass der Staat nach weiteren 18 bis 111 Mitgliedern des rechtsextremen Nationalsozialistischen Untergrunds sucht. Die Angaben sind unterschiedlich. Wer sind diese Personen? Auf welchem Stand befinden sich die Ermittlungen? Haben diese Terroristen neue Anschlagspläne? Wer und was sind ihre nächsten Angriffsziele? Dies sind alles Fragen, die uns nach wie vor beschäftigen.
In dieser Angelegenheit würdige ich die Arbeit des Parlaments. Denn der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zeigt sich in dieser Sache sehr sensibel und verfolgt die laufenden Ermittlungen intensiv. Auf der anderen Seite aber werden Ängste geschürt. Dass das Amt für Verfassungsschutz, die Innenminister sowie andere involvierte Behörden Informationen vorenthalten oder nur verzögert herausgeben, führt nicht gerade dazu, dass das ohnehin stark getrübte Vertrauen der Menschen in die Sicherheitsbehörden gestärkt wird. Dennoch bin ich der Auffassung, dass die beharrliche Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags brauchbare Ergebnisse hervorbringen wird.
Auf der NSU-Todesliste stand auch Ihr Name. Worauf führen Sie es zurück, dass die deutschen Sicherheitskräfte Sie nicht darüber informierten? Die Behörden wussten ja anscheinend darüber bescheid und trafen keine notwendigen Vorkehrungen.
Dass mein Name auf der Liste stand, habe ich aus der Presse erfahren. Daraufhin habe ich mich an das Bundeskriminalamt und an das Landeskriminalamt gewandt, um Informationen zu erhalten. Mir wurde mitgeteilt, dass den betreffenden Behörden eine solche Information nicht vorliege. Die diesbezüglich in der Presse veröffentlichten Informationen wurden weder bestätigt, noch dementiert. Interessant ist allerdings, dass am Abend des Tages, an dem ich mich an die Behörden gewandt hatte, die Polizei zu mir nach Hause gekommen ist, um meine Familie zu beruhigen. Abgesehen davon, dass ich aus der Presse erfahren habe, dass mein Name auf der Liste stand, stimmt hier auch nachdenklich, dass weder von der Polizei, noch vom Amt für Verfassungsschutz zuverlässige und ausreichende Informationen diesbezüglich gegeben wurden, obwohl die Sache schon längst öffentlich geworden war.
Wie am Beispiel der rechtsextremen NSU zu sehen ist, erreicht der Rassismus in Deutschland von Zeit zu Zeit neue Höhen. Der allgemeine Rassismus, aber insbesondere rassistische Übergriffe auf Muslime, haben nicht etwa abgenommen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Angriffe auf Moscheen sind an der Tagesordnung. Aber anstelle der Rassisten wird die IGMG vom Verfassungsschutz beobachtet. Das erscheint absurd. Was sagen Sie dazu?
Die gegen unsere Moscheen gerichteten Angriffe reichen von Beschmierungen mit Farben, dem Bewerfen mit Organen von Schweinen, dem Einwerfen von Fensterscheiben, bis hin zu versuchter Brandstiftung. Allerdings haben diese Angriffe in der Öffentlichkeit keine Reaktionen hervorgerufen. Wir wünschen uns, dass alle heiligen Stätten und Gotteshäuser in diesem Land respektiert werden, unabhängig davon, zu welcher Religion sie gehören. Aber die bestehende Situation legt die Vermutung nahe, dass die Reaktionen in der Öffentlichkeit ganz anders ausgefallen wären, wenn sich die Angriffe nicht auf Moscheen, sondern gegen die Einrichtungen anderer Religionen gerichtet hätten. Das Problem wird in der Regel bei uns Muslimen gesucht, obwohl es doch unsere Moscheen sind, die den Angriffen ausgesetzt sind. Das ist tatsächlich, wie sie schon sagten, eine absurde Situation.
Was sind die Fehler und Mängel im Verhalten der Muslime in diesem Prozess?
Ich meine, mehr noch als die Mängel und die Fehler der Muslime hervorzuheben, ist es notwendig, sich Folgendes vor Augen zu halten: Ja, es gibt Angriffe auf Muslime und Ungerechtigkeiten. Aber fortdauernd die Rolle des Benachteiligten und des ungerecht Behandelten einzunehmen und in den Medien immer nur in diesem Zusammenhang zu erscheinen, bringt uns nicht weiter. Das Dilemma, in dem wir uns befinden, besteht darin, dass unsere berechtigten Forderungen negativ ausgelegt werden. Wenn nun in den deutschen Medien Angriffe auf Muslime so gut wie gar nicht erwähnt werden, und wir als Reaktion darauf sagen, dass wir in den Medien stärker präsent sein müssen, um das Unrecht gegen die Muslime bekannt zu machen, verstärken wir dadurch auch ungewollt die negative Wahrnehmung. Der bessere Weg dürfte in diesem Fall sein, dass die Muslime mit ihren Erfolgen und Leistungen auf unterschiedlichsten Feldern konkrete positive Beiträge zur Gesellschaft leisten, und auf diese Weise langfristig die festgefahrenen negativen Klischees auflösen.
Der Rassismus ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch auf europäischer Ebene nimmt die Islamfeindlichkeit ständig zu. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Nennen Sie es Rassismus oder Islamfeindlichkeit, „Ausgrenzung und Rassismus“ sind zu einem unbestreitbaren Bestandteil der europäischen Realität geworden. Daher müssen wir jede Art von Anstrengungen, die gegen die Ausgrenzung von Menschen unternommen werden, unterstützen und unsere eigene wissenschaftliche Sachkenntnis auf diesem Feld weiterentwickeln. Unabhängig davon, ob es Muslime oder Nichtmuslime sind, fallen hier allen zivilgesellschaftlichen Institutionen wichtige Aufgaben zu.
Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Ausgrenzung sollte daher an oberster Stelle auf der Agenda zivilgesellschaftlicher Institutionen stehen. Heute lebt eine beträchtliche Anzahl an Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Wenn wir uns die Schulen anschauen, sehen wir, dass in vielen Klassen jede zweite Schülerin oder jeder zweite Schüler einen Migrationshintergrund hat. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Situation ähnlich. Aufgrund dieser Zahlen müssen die zivilgesellschaftlichen Institutionen in Deutschland ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie wichtig es ist, sich mit dem Problem Rassismus und Ausgrenzung in Europa auseinanderzusetzen. Und sie müssen auch sehen, dass es sich mittlerweile um ein Problem handelt, das nicht länger aufgeschoben und vernachlässigt werden kann, das heißt, es müssen konkrete Schritte unternommen werden.
Manche zivilgesellschaftlichen Institutionen oder Einrichtungen, die die Entwicklung der Ausgrenzungsproblematik in der Gesellschaft mitverfolgen, zum Beispiel die der Ausgrenzung von Frauen im Arbeitsleben, verhalten sich zurückhaltend, wenn es darum geht, in gleicher Weise die Ausgrenzungen von Muslimen zu dokumentieren. Beispielsweise finden die zuvor erwähnten Angriffe auf Moscheen keine ausreichende Erwähnung in den betreffenden Berichten und Statistiken über Rassismus und Ausgrenzung. Dies liegt daran, dass die Vorfälle nicht ausreichend in die Öffentlichkeit dringen. Die Ausgrenzung von Muslimen tritt am deutlichsten in den Fällen von Ausgrenzung aufgrund spezifischer Bekleidung hervor. Bestes Beispiel dafür ist die Ausgrenzung aufgrund des muslimischen Kopftuches, die in manchen Ländern in Schulen und Arbeitsstätten stattfindet. Sonstige augenfällige Beispiele sind das Minarettverbot und das Beschneidungsverbot. Das schwerwiegendste Problem aber ist, dass Angriffe auf Muslime und ihre Einrichtungen nicht als rassistisch motivierte Straftaten bewertet werden. Das führt dazu, dass diese Vorfälle nicht in der Rubrik rassistischer, rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Straftaten registriert und dokumentiert werden, und infolgedessen keine zuverlässigen Daten gesammelt werden können. Diese sind aber notwendig, um ein realistisches Bild zu zeichnen, auf dessen Grundlage rechtliche und politische Konsequenzen folgen können.
Die Einwanderung nach Deutschland hat vor 50 Jahren begonnen. Der türkische Staat hat Menschen in die Fremde geschickt und sie über lange Jahre hinweg sich selbst überlassen, ohne sich um sie zu kümmern. Welche Vor- und Nachteile hat dies für die im Ausland lebenden Türken gehabt?
Die Türkei war als Staat zwar seit Beginn der Arbeitskräfteentsendung nach Deutschland durchaus präsent. Nur ging diese Präsenz über lange Zeit hinweg nicht über eine bürokratisch-verwalterische Präsenz hinaus. Die ausgewanderten Menschen waren gezwungen, viele ihrer Bedürfnisse, die sie als Gemeinschaft hatten, durch den eigenen Aufbau entsprechender Einrichtungen zu erfüllen. In diesem Sinne lag der Vorteil davon, dass uns der türkische Staat in vielen Belangen allein gelassen hat, darin, dass wir dadurch eine zivile Infrastruktur entwickelt haben. Aber die ins Ausland gehende Generation kannte sich damals mit dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen nicht aus, und durchlebte daher im Verlauf ihrer institutionellen Selbstorganisation ein Auf und Ab mit vielen Schwierigkeiten. Am Ende dieses Prozesses sind aber mittlerweile zivile Einrichtungen entstanden, die selbstbewusst sind, wissen, was sie wollen und auf fest verankerten Fundamenten stehen können.
Was sind die Grundprinzipien, die das IGMG Generalsekretariat im Rahmen der institutionellen Beziehung und Zusammenarbeit verfolgt?
So wie in allen Bereichen unserer Organisation, sind auch unsere Arbeitsprinzipien durch Koran und Sunna bestimmt. Nach ihnen richten wir unsere Tätigkeit aus. Gleichzeitig kann ich sagen, dass die Entwicklung eines Umma-Bewusstseins, die Bemühung um die Entwicklung einer Gesellschaft, in der Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand herrschen, zu unseren wesentlichen Prinzipien gehören.
Es findet ein Dialog und eine Zusammenarbeit in den drei Bereichen Muslime, Nichtmuslime und Staat statt. Was sind die Themen und Anliegen, auf die Sie in diesen Bereichen besonderen Wert legen?
In allen drei Bereichen gelten die gleichen Prinzipien. Diese gelten nicht nur in unseren Beziehungen nach außen, sondern auch in unseren internen Beziehungen unter dem Dach der IGMG. Unser internes Auftreten und unser Auftreten nach außen waren und sind daher nie verschieden. Bei all unseren Arbeiten sind Koran und Sunna immer unsere Maxime gewesen. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit und den Dialog in den erwähnten drei Bereichen. Unsere Haltung, sei es dem Staat gegenüber oder sei es zivilen Einrichtungen gegenüber, ist dabei immer gleich. Das heißt auch, dass wir uns bei Themen, die unserem Glaubensverständnis und unserer damit verbundenen Lebensanschauung widersprechen, unsere Positionen deutlich machen. Dies wollen wir auch zukünftig beibehalten.
Es ist nun 5 Jahre her, seitdem der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) gegründet wurde. Hat er Ihrer Meinung nach die Erwartungen erfüllt?
Die Gründung des KRM war ein sehr wichtiger Schritt. Zuallererst hat er mit dem Klischee aufgeräumt, die betreffenden Religionsgemeinschaften würden sich nicht unter einem Dach zusammenfinden können. Der KRM ist eine Institution, die in vielen Angelegenheiten Ansprechpartner für den deutschen Staat ist, so zum Beispiel bei den Themen Islamische Fakultäten an Universitäten und islamischer Religionsunterricht. Natürlich gibt es Mängel und manchmal auch Dinge, die falsch laufen, aber dies darf niemals ein Hinderungsgrund dafür sein, dass Muslime sich unter diesem einen Dach zusammenfinden. Ich glaube, der Nutzen des KRM wird für die Muslime erkennbarer werden, wenn seine rechtliche Struktur weiterentwickelt wird und er in der Zukunft eine Vorreiterfunktion für andere muslimische Einrichtungen übernehmen kann.
Herr Üçüncü, vielen Dank für das Gespräch!